Platypus (englisch: Schnabeltier) ist ein Projekt der Selbstkritik und der „Selbstbildung“ mit dem Ziel einer praktischen Re- und Neuorganisation einer marxischen Linken. Gegenwärtig erscheint die marxistische Linke als historisches Zerfallsprodukt. Die gängige Meinung betrachtet die vergangenen, gescheiterten Versuche von gesellschaftlicher Emanzipation nicht als historische Möglichkeiten, deren Verwirklichung noch aussteht, sondern bloß als Vergangenheit, als „tote“ Geschichte – die historischen Momente gelten als blanker Utopismus, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Als kritische Erbin einer besiegten Tradition, vertritt Platypus die These, dass die gegenwärtige Orientierungslosigkeit der Linken dafür spricht, dass wir – angesichts des Scheiterns der „Neuen Linken“ (1968), der Demontage des „Sozialstaates“ und dem Kollaps der Sowjetunion in den 1980er Jahren – heute nicht besser als die „Utopisten“ der Vergangenheit wissen, wie die Aufgaben und Ziele sozialer Emanzipation aussehen könnten.
Unsere Aufgabe besteht in der Kritik und Bildung mit dem Ziel der Neuorganisation einer marxischen Linken. Platypus ist der Ansicht, dass die Fragmente der heutigen Linken einer Tradition entstammen, deren Niederlage zu einem großen Teil selbst verschuldet ist. Insofern ist die marxistische Linke „historisch“ und in einer so ernsten und Besorgnis erregenden Auflösung begriffen, dass es zunehmend schwieriger geworden ist, einheitliche, programmatische und in sich kohärente sozialpolitische Forderungen zu stellen. Angesichts der vergangenen und gegenwärtigen Katastrophen, stellt sich deshalb als erste unmittelbare Aufgabe der potentiellen Neuorganisation einer marxischen Linken als emanzipatorischer Kraft die Erkenntnis der Ursachen und Gründe des Scheiterns des Marxismus und die Aufklärung über die Notwendigkeit einer marxischen Linken für Gegenwart und Zukunft. – Wenn die Linke die Welt verändern will, muss sie sich zuallererst selbst verändern!
Die unwahrscheinliche – aber nicht unmögliche – Neuorganisation einer emanzipatorischen Linken ist eine dringende Aufgabe; wir sind der Ansicht, dass die Zukunft der Menschheit hiervon abhängt. Während die verheerenden Kräfte, die durch die moderne kapitalistische Gesellschaft hervor gerufen werden, weiterhin existieren und sich entwickeln, bleibt das soziale Versprechen gesellschaftlicher Emanzipation unerfüllt. Sich von dieser Aufgabe zurückziehen oder die Bedeutung vergangener Niederlagen und Fehler in Nebel zu hüllen, indem Hoffnung auf „Widerstand“ von einem gedachten „Außerhalb“ der kapitalistischen Dynamik gesetzt wird, bedeutet nichts anderes, als die Affirmation eben jener Dynamik in der Gegenwart und die Befestigung ihrer zukünftigen zerstörerischen Realität.
Platypus stellt deshalb folgende Fragen: Inwiefern sind die Gedanken kritischer Gesellschaftstheoretiker wie zum Beispiel Marx, Lukács, Benjamin und Adorno relevant für die heutige Auseinandersetzung um Emanzipation? Auf welche Weise können wir Sinn aus der langen Geschichte „verarmender“ linker Politik ziehen – betrachtet von der internationalistischen marxistischen Linken von Lenin, Luxemburg und Trotzki bis zu der gegenwärtigen „Leere“- ohne von dieser Geschichte eingeschüchtert oder entmutigt zu werden? Inwiefern können die Antworten auf diese Fragen der Reorganisation einer Linken auf der fundamentalen Ebene von Theorie und Praxis förderlich sein? Wie können wir dazu beitragen, die Sackgassen linker Politik zu überwinden, in welche die Linke heute geraten ist?
Wir hoffen, eine Debatte innerhalb der Linken wieder zu beleben, die seit langer Zeit entweder vergreist oder verstummt ist, um aufs Neue einer potentiell emanzipatorischen Praxis zum Leben zu verhelfen, die gegenwärtig abwesend ist.
Was ist die Linke gewesen und was kann aus ihr zukünftig noch werden? – Platypus existiert, weil die Antwort auf solch eine Frage, sogar in ihrer grundlegenden Ausformulierung, schon lange nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden kann.
April 2007
Eine kurze Geschichte der Linken
Marx und 1848
Marx war nicht der Begründer, sondern der geistvolle und kritische Mitgestalter der Linken im 19. Jahrhundert. Der Sozialismus und Kommunismus wurden nicht von Marx und Engels oder ihren Mitstreitern (und Gegnern) innerhalb der Linken erfunden, sondern sind vielmehr das Resultat der inneren Widersprüche moderner Gesellschaft, vor allem sichtbar an der Französischen Revolution im Jahre 1789 und der Arbeiterbewegung, die sich während der Industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert heraus bildete. Marx‘ große Einsicht bestand darin, die Linke selbst als Symptom des Kapitalismus zu begreifen, was so viel bedeutet, dass die Linke dem Kapitalismus nicht von „außen“ entgegen tritt, sondern vielmehr immanent, von „innen“ heraus. Dennoch unterstützte Marx die sozialistische Arbeiterbewegung mit dem Ziel, ihre Entwicklung voran zu treiben und ihr Bewusstsein darüber zu schärfen, wie sie über sich selbst hinaus wies.
Die Ideen von Marx entstanden in der Auseinandersetzung und Kritik mit den emanzipatorischen Theorien seiner Zeit, die auf 1789 folgten: dem französischen Sozialismus, der deutschen idealistischen Philosophie und der englischen Politischen Ökonomie. Im Jahre 1848 – dem Erscheinungsjahr des „Manifests der kommunistischen Partei“ und der revolutionären Erhebung in Deutschland, Frankreich und anderen Teilen Europas (durch die globale ökonomische Rezession hervor gerufen) – wurde das politische Problem und die Frage nach Gleichheit und Demokratie komplizierter und vor allem grundlegender gestellt. Eine rousseauistische Kritik der modernen Zivilisation (beispielhaft in Proudhons „Eigentum ist Diebstahl“) griff in dieser neu entstandenen gesellschaftlichen Konfliktsituation viel zu kurz. Die radikal demokratischen Kräfte des „dritten Standes“ (städtisches Bürgertum und Arbeiter) stießen schnell auf ein Hindernis: Das Kapital wurde zunehmend in seiner Existenz bedroht, da die sozialdemokratische Bewegung eine höhere Stufe gesellschaftlicher Produktion anstrebte. Die Folgen der gescheiterten Revolution von 1848 bedeuteten den Beginn einer Politik der Massen und des modernen national-parlamentarischen und bonapartistischen Staates, in welchem wir heute noch leben.
Nach dieser Krise, die auf 1848 folgte, begann Marx, einen kritischen und dialektischen Begriff des Kapitalismus zu entwickeln. Das Kapital erkannte Marx als eine Form sozialer Befreiung, welche dazu tendiert, alle sozialen Beziehungen zu beherrschen – und gleichzeitig die Bedingungen einer allgemeinen Gesellschaftlichkeit schafft: der ökonomische Zwang zur Produktion von „Mehrwert“, der darauf basiert, Arbeit zeitlich messbar zu machen und in eine Ware zu verwandeln – als Ware „Arbeitskraft“. Das Kapital begriff Marx also als eine Form des Reichtums, dessen Quelle die lebendige Arbeit ist, die von nun an dem Kommando der
Wertproduktion untersteht – weshalb Marx die Metapher gebraucht, im Kapitalismus herrsche die „tote“ über die „lebendige“ Arbeit.
In den Jahren nach der russischen Revolution (1917), versuchte Georg Lukács angesichts der veränderten historischen Situation, diese Erkenntnis des widersprüchlichen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung neu an zueignen. Es handelt sich bei diesem Widerspruch um einen, der alle Menschen in ihrem sozialen Dasein und ihrem Bewusstsein bestimmt, die innerhalb warenförmiger Beziehungen leben und arbeiten. Durch diese „Verdinglichung“ – wie Lukács diesen Sachverhalt bezeichnet – vollzieht sich die Erkenntnis der Menschen in ideologischen Formen (der Linken mit eingeschlossen), die sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse reproduzieren, sowie die Möglichkeit ihrer Aufhebung mit erzeugen.
Für Marx ist die kapitalistische Gesellschaftsform die Grundlage und Bedingung für die Möglichkeit emanzipatorischer Praxis, die jedoch gleichzeitig in ihrer Verwirklichung gehemmt wird. Als gesellschaftliches Prinzip, weist das Kapital jedoch zwangsläufig über sich selbst hinaus.
Lenin, Luxemburg und das Jahr 1917
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die jüngere Generation der radikalen Linken in der Sozialdemokratie den revolutionären Charakter ihrer Vorgänger (Kautsky, Plechanov) mit Selbstverständlichkeit hin, stieß jedoch auf Probleme in ihrer eigenen Bewegung, an deren Seite sie so enthusiastisch kämpften. Die Träger des revolutionären marxistischen Flügels fanden sich beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 in einer extrem isolierten Position innerhalb der Linken wieder. Russland erwies sich als das „schwächste Glied“ im globalen Kapitalismus, wodurch es zum Epizentrum des revolutionären politischen Kampfes wurde. Das paradoxe Resultat dieser Ausgangslage war – in Lenins Worten – ein „deformierter Arbeiterstaat“, ein administrativer „Staatskapitalismus“, der sich auf dem Fahrwasser des sich nach dem Krieg „erholenden“ globalen Kapitals entwickelte. Luxemburg und ihre Genossen in Deutschland unterstützten zwar die Bolschewisten, blieben jedoch als Marxisten kritisch, da sie sich voll und ganz bewusst waren, dass die Oktoberrevolution von 1917 die Notwendigkeit einer globalen Revolution dringlicher denn je machte. Die russische Revolution warf zwar das Problem des revolutionären sozialistischen Umbruchs auf historisch einzigartige Weise auf; gelöst konnte dieses Problem jedoch nur auf der internationalen Ebene sozialistischer Revolution. In ihren Anstrengungen, den marxistischen Prinzipien treu zu bleiben, veränderten Lenin, Luxemburg und ihre Mitstreiter zwar die marxistische Bewegung, jedoch in einer so unausgeglichenen Weise, dass dadurch – nach dem ultimativen Scheitern der antikapitalistischen Revolution zwischen 1917-1919 – die Grundlage für einen erheblichen Verfall der Linken geschaffen wurde – nicht zuletzt in ihrem Selbstverständnis.
Trotzki
Als Stalin den „Sozialismus in einem Lande“ ausrief, hat er nicht explizit eine revolutionäre marxistische Perspektive aufgegeben, sondern sich vielmehr den Bedingungen der russischen Lage um 1924 angepasst. Selbst die Revolutionäre, die nicht so zynisch waren wie Stalin und die Bolschewisten, die er manipulierte und ermordete, haben die riskante Politik des internationalen Kommunismus nicht als die einzige Möglichkeit gutgeheißen, die bescheidenen Erfolge von 1917 aufrecht zu erhalten, geschweige denn, sie auszubauen. In dieser Abwesenheit verlangte die „Verteidigung der Revolution“ noch höhere Opfer – eine Katastrophe für die Menschheit.
Adorno
Der Zerfall des revolutionären Marxismus bis in die 1930er hinein, wurde zu einem schwerwiegenden Problem für kritisches Bewusstsein innerhalb der Linken. Die radikale Krise von Krieg und sozialer Revolution zwischen 1914 und 1919 schuf eine reaktionäre Gegenbewegung. Der Faschismus und Nationalsozialismus brachten einen erneuten Weltkrieg, wodurch auch die Linke spätestens im Jahre 1945 völlig zerstört wurde. Als Folge der Konterrevolution und Reaktion nach 1919, entwickelte sich der „autoritäre Charakter“ als eine Form von sozialer und politischer Subjektivität, die sich überall manifestierte – nicht nur in den schwarzen und braunen Reihen des Faschismus, sondern auch in der von der sowjetischen Komintern organisierten „Volksfront“ und später in den nationalistischen Bewegungen der „Dritten Welt“. Der „autoritäre Charakter“ mit seiner narzisstischen Kränkung und seinem Sado-Masochismus, offenbarte eine reaktionäre „Furcht vor der Freiheit“.
Der „Marxismus“ der Ostblockstaaten wurde selbst zu einem Bestandteil der allgemeinen Ideologie spätkapitalistischer Gesellschaft, jedoch in einer widersprüchlichen Weise, da dieser immer noch über bürgerliche Ideologie hinaus wies und deren „Leerstelle“ symbolisch besetzte und aufzeigte. In dieser Phase triumphierender Konterrevolution im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert, tauchte deshalb die Frage und das Problem gesellschaftskritischen Bewusstseins wieder auf. Die Wiederaneignung des kritischen Stachels marxischer Theorie und Praxis hat sich in den 1960er Jahren als eine obskure Aufgabe herausgestellt; jedoch als eine, die die Linke in ihrer sozialen und politischen Verwirrung und in der Verschleierung des Projekts der Emanzipation verfolgte – einem Projekt, welches das profunde Vermächtnis der besiegten und verlorenen Revolution ist.
1968 – 1989 – und Heute
In den 60er Jahren hat die Linke in zunehmender Weise das Recht und die Möglichkeit der Revolution in den kapitalistischen „Zentren“ bzw. Industrienationen in Zweifel gezogen. – Beispielhaft in Susan Sontags Ausspruch: „the white race is the cancer of human history.“ – Es entwickelte sich eine passive Hoffnung und Erwartung, welche die allgemeine Befreiung von den sozialen Bewegungen der globalen „Subalternen“ abhängig machte. Dabei wurde jede kritische Untersuchung der tatsächlichen politischen Formen dieser Bewegungen unterlassen und vergessen. – Adorno merkte zu Beginn der Dekolonisierung kritisch an: „Die Wilden sind nicht bessere Menschen“ (1944) – Dieser Verzicht auf das Politische nahm unterschiedliche Formen der Selbstverleugnung an, beispielhaft in einer rassistischen Idealisierung „kultureller Unterschiede“, die dem Politischen jegliche Substanz nahm und in der Oberflächlichkeit mündete.
Die revolutionäre Linke nach 1945 war zwar bereits so gut wie zerfallen, ihr endgültiges Todesurteil ist jedoch in dem Moment eingetreten, als sich diese angesichts der studentisch geprägten „Neuen Linken“ der Bedeutung und der Rolle des kritischen Bewusstseins entledigt hat. Die Entzauberung der linken Bewegung der 60er, warf einen großen Schatten auf die darauf folgenden Jahrzehnte, die in dem Zusammenbruch der Sowjetunion um 1989-1992 kulminierte – dem „Ende der Geschichte“ und dem Ende aller „großen“ Projekte und Erzählungen von allgemeiner gesellschaftlicher Emanzipation. Die „Neue Linke“ bekam die Welt, die sie verdiente; jeder Versuch, den damaligen pseudo-radikalen Antimarxismus der „Neuen Linken“ zu erhalten, laufen darauf hinaus, ein Gespenst wiederbeleben zu wollen.
Adornos berühmt-berüchtigter Satz „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ (1944) wurde meist als ein existenzielles Problem missverstanden, anstatt als politisches. Das Problem der Praxis ist jedoch kein ethisches Problem. Vielmehr steht bei der Frage von politischer Praxis das Anliegen im Mittelpunkt, Möglichkeiten der Emanzipation zu eröffnen.
Die Utopie einer befreiten Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller wäre und in der das Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx) gelten würde, hat die historische Linke in ihrer Tätigkeit geleitet – diese Utopie ist gegenwärtig jedoch kaum noch wahrnehmbar.
So wie es denkbar ist, unterdrückt zu sein, ohne die Gründe und Ursachen dafür zu kennen – worauf der Begriff der „Entfremdung“ hin deutet -, ist es ebenso möglich, dass bisher nicht-verwirklichte Möglichkeiten bestehen bleiben, auch wenn von diesen kein allgemeines Bewusstsein existiert. Die Möglichkeit des kritischen Bewusstseins für Emanzipation überlebt daher ihren scheinbaren Niedergang; sie fordert uns daher nach wie vor – auf welch unbewusste Weise auch immer. Die Rolle des Bewusstseins ist von grundlegender Wichtigkeit für jede mögliche gesellschaftliche Emanzipation.
Juni/Juli 2006, aus dem Amerikanischen